INTIMACY

Das digitale Nähe-Distanz-Problem
Vorüberlegungen zu
paraflows .9: Intimacy

Vom technologischen zum digitalen Menschen


Seit jeher gehört es zum Wesen des Menschen, sich technologischer Artefakte zu bedienen, um auf diese Weise jene Beschränkungen aufzuheben, die ihm durch Form, Ausstattung und Reichweite seines Körpers auferlegt sind.

Die Erweiterung und Aufwertung des Körpers durch Hilfsmittel markiert in einem gewissen Sinne den Ausgangspunkt der menschlichen Gattungsgeschichte: Im Gebrauch von Werkzeugen löste sich der frühzeitliche Homo sapiens von der Naturverfallenheit der Tiere. Seine Gerätschaft hat sich im Laufe der Evolution von bearbeiteten Fundstücken (etwa Tierknochen oder Steine als Jagdwaffen) in komplexe funktionale Systeme ausdifferenziert, und in der Herstellung und Auseinandersetzung mit Technik bildete sich ein spezifisch menschliches Denk- und Vorstellungsvermögen heraus, in dem sich einfache Beobachtungen und Erfahrungen zu abstrakten Begriffen verdichteten und zweckmäßige Überlegungen den Grundstein für ganze Denkgebäude und kulturelle Ordnungen legten. Die Fähigkeit, Hilfsmittel zu konzipieren, herzustellen und immer weiter zu optimieren, steht also in einem Wechselwirkungsverhältnis mit jenem Geist, der sich an ihnen bildet. Wie einfach oder komplex Technik letztlich ist – primitiver Knochen oder Rechenzentrum –, spielt dabei keine besondere Rolle. Wie die Eingangssequenz von Stanley Kubricks „2001: Odyssee im Weltraum“ eindrucksvoll nahe legt, ist im Knochen das Rechenzentrum bereits angelegt.

Menschliche Entwicklung lässt sich als Abfolge technologischer Innovationen begreifen, bei der einfache durch komplexe Werkzeuge ersetzt wurden, die ganzen Epochen ihren Stempel aufdrückten und sogar den Namen gaben, wie im Falle der Dampfmaschine oder des Computers. Die jeweils verfügbare Technologie ist der Maßstab für die Entwicklungshöhe des Menschen, weil sie ihn aus seinem Abhängigkeitsverhältnis gegenüber der Natur befreit, das auf diesem Wege allerdings gegen ein neues eingetauscht wird. Der moderne Mensch ist in derselben Weise abhängig von Technik, wie es seine Vorfahren einmal von den Launen der Natur gewesen waren. Der Ausfall der technologischen Grundversorgung – z- B. durch die Zerstörung ihrer Infrastruktur in Folge von Natur- oder Zivilisationskatastrophen – führt zu einem vorübergehenden oder dauerhaften Zusammenbruch der Gesellschaft, wie ihn uns dystopische Science-Fiction-Erzählungen oder der berüchtigte New Yorker Blackout im Jahre 1977 gezeigt haben. Auch daran lässt sich ermessen, wie stark das menschliche Leben mit Technologie verwachsen ist, und zwar auf eine Weise, die wohl am augenfälligsten in der medizinischen Prothese (als Ersatz für beschädigte oder fehlende Körperglieder) zum Ausdruck kommt. Hier wird das Artefakt zum Körperteil. Die Grenze zwischen beidem lässt sich nicht mehr eindeutig bestimmen. Brillen etwa sind Bestandteil jenes Gesichtes, das sie trägt, um sein Sichtfeld zu erweitern. Wie Haarfarbe oder Größe werden sie zur Eigenschaft der Person. Von ihr zur Kontaktlinse und zum Netzhautimplantat ist es dann nur noch ein kleiner Schritt. Beide verfeinern die zugrunde liegende Idee lediglich entlang des jeweils Machbaren.

Das unaufhaltsame Vordringen technologischer Artefakte und Prinzipien in immer mehr und immer intimere Lebensbereiche kann durchaus Gefühle der Entfremdung auslösen – manchmal bis zum gefühlten Verlust der „Menschlichkeit“. Das hat auch damit zu tun, dass der technische Fortschritt nicht selten mit Zwang und zum Zwecke ökonomischer, bürokratischer oder militärischer Machtausübung exekutiert wird. Das sind jedoch keine Wesenszüge des Technischen, sondern diejenigen von Menschen, die sich ihrer bedienen. Die Entfremdung, die uns in Technik begegnet, ist also in einem gewissen Sinne bereits das Ergebnis ihrer Vermenschlichung. Zerstörung, Rationalisierung oder Profitmaximierung ist ihr selbst ebenso fremd wie Glück und Wohlstand. Dass sie selbst menschliche Züge annimmt, wo sie Menschen bedroht, unterdrückt, ausbeutet und beherrscht, zeigt, wie eng sie sich mit denen verbunden hat, die über sie verfügen. Dass der Technik selbst also etwas Abstraktes, Kaltes und Funktionales anhaftet, hat hierin seinen Grund. Ihre Kälte ist jedoch stets nur der Ausdruck jener menschlichen Kälte, auf der die kapitalistische Ordnung beruht.

Mit jedem technologischen Entwicklungssprung ist uns Technik immer näher gekommen, um sich mit noch mehr Lebensäußerungen zu verbinden, nicht nur in Form jener Applikationen und Geräte, mit denen wir selbst täglich umgehen. Auch unsere Nahrung ist das Ergebnis technischer Produktion, zwischenmenschliche Beziehungen werden in prägender Weise von Kommunikations- und Verkehrsmitteln bestimmt und die scheinbare Natur, die uns umgibt, ist technisch gestaltet und manchmal bereits krisenhaft verändert, wie der so genannte „Treibhauseffekt“ zeigt.

Schon für den steinzeitlichen Menschen dürfen wir ein inniges Verhältnis zu seinen Werkzeugen annehmen. Vermutlich wird er sie stets in Griffweite aufbewahrt haben, weil ihre Nähe ihm ein Gefühl der Sicherheit (vor Feinden und vor Diebstahl) vermittelte. Sie waren nämlich nicht bloß Mittel zum Zweck, sondern die Insignien seiner Macht. Wie seine heutigen Nachfolger_innen bezog er sowohl Selbstbewusstsein also auch sein Selbstverständnis aus der Technologie, über die er verfügen konnte. Archäologische Funde belegen, dass der stein- und bronzezeitliche Mensch seine Werkzeuge manchmal sogar mit in sein Grab nahm, statt sie einfach weiterzugeben. Zum pragmatischen Aspekt tritt also bereits hier eine psychologische Komponente hinzu, wie sie sich nicht zuletzt daran zeigt, dass schon frühgeschichtliche Werkzeuge Spuren von Design aufweisen. Sie waren ästhetisch gestaltet, und das in einer Weise, die sich nicht zufrieden stellend aus ihrem Gebrauchszweck erklären lässt. Ihr „Design“ ist Ausdruck psychischer Nähe, die rituelle, fetischistische, selbstreferentielle, hierarchisierende und kulturstiftende Dimensionen besitzt.

Mit der steigenden technologischen Durchdringung von Gesellschaft und Subjekt hat sich dieses Verhältnis nicht verändert, aber entschieden intensiviert. Technologie durchformt heute so gut wie alle Bereiche unseres Seins, und Mensch und Technik sind sich dabei so nahe gekommen wie niemals zuvor. Technik dringt dabei in immer intimere Lebensbereiche vor – und das nicht bloß in Form von Prothesen und Implantaten oder so genanntem „Sexspielzeug“ –, weil sie immer besser in der Lage ist, sich den menschlichen Bedürfnissen anzuschmiegen und reibungslos auch noch den differenziertesten Lebensäußerungen so einzufügen, wie das künstliche Hüftgelenk und der Herzschrittmacher in den Bauplan des menschlichen Organismus. Dergestalt lebt der moderne Mensch in einem „enhanced“-Modus, in dem die Übergänge zwischen ihm und seinen Hilfsmitteln verschwimmen. In einem gewissen Sinne stellt der digitale Mensch also eine Zweipunktnullversion des technischen dar.

Der digitale Mensch als Cyborg


Das Prinzip der digitalen Technologie ist nicht die Überwindung der analogen, sondern deren Komprimierung in ein und dasselbe handliche Gerät auf der Basis eines universellen binären Codes. Es bündelt jene Möglichkeiten auf kleinstem Raum, die die technischen Hilfsmittel uns an die Hand gegeben haben: Tonstudio, DVD-Player, Fotoausrüstung, das alles gehört zur Standardausstattung eines Laptops und spart uns dadurch Zeit, Geld, Platz und organisatorischen Aufwand.

Seine weitreichende lebenspraktische Verschmelzung mit Computer und Internet macht den digitalen Menschen zu einem Hybridwesen an der Schnittstelle von Mensch und Technologie: zum Cyborg, der seine technologische Grundausstattung beinahe ununterbrochen am Leib trägt. Noch sind ihm keineswegs serienmäßig jene Schnittstellen zwischen Körper und technischen Applikationen implementiert, die uns Cyborg-Utopien oder -Dystopien vor Augen gestellt haben. Aber die immer weiter reichende Komprimierung von Rechnerleistung zu kleinen, alltagstauglichen „Handhelds“ macht digitale Technologie zum ständigen Begleiter, auch ohne die menschliche Körperoberfläche zu durchstoßen. Mit dem Smart Phone können wir uns fast überall ins Netz einwählen (sofern es Netzzugang vorhanden ist) und mit sehr spezifischen Informationen versorgen, etwa mit auf unsere persönlichen Bedürfnissen abgestimmten Umgebungskarten. Anderen teilen sie – nicht immer zu unserem Vorteil – mit, wo genau wir uns gerade befinden oder zu einem gegebenen Zeitpunkt gewesen sind. Sie binden uns in eine informationelle Metastruktur ein, zu deren Bestandteil wir in dem Maße werden, in dem wir uns auf die allerneusten Geräteupdates einlassen und zugeschaltet bleiben.

Die digitale Intensivierung der Nähe von User_in und Gerät wird dadurch verstärkt, dass digitale Geräteeinstellungen sich vielfach variieren lassen. Dadurch entsteht der Eindruck von etwas ganz Persönlichem, ausgesprochen Individuellem. „Unseren“ Klingelton erkennen wir unter vielen anderen heraus, und unsere ganz privaten Inhalte können wir überall abrufen, so dass wir nicht länger – wie noch zu Zeiten des batteriebetriebenen Kofferradios – auf fremde Playlists angewiesen sind. Kleinbildschirm und Kopfhörer bieten die Möglichkeit zu privatem Rückzug. Egal wo wir uns gerade befinden, tragen wir unser digitalisiertes Zuhause mit uns herum. Die traditionellen Funktionen der Privatsphäre können wir in jedem Zugabteil oder Wartezimmer abrufen.

Das Private ist in einem gewissen Sinne also das Digitale, und zwar in dem Maße, in dem die User_innen immer mehr Züge ihrer Persönlichkeit in ihre Geräte auslagern. Die Durchsetzung des Computers als Leitmedium nahm ihren Ausgang in wuchtigen Standrechnern, die dem Digitalen einen festen und vor allem exklusiven Ort in unserer Lebenssphäre zuwiesen (etwa den Schreibtisch). Spätestens mit der Einführung des Laptops wurde er aber mobil. Mit dem Smart Phone können wir uns in der Kneipe und sogar auf kurzen S-Bahn-Fahrten in die digitale Welt einloggen, die sich – gleichsam unsichtbar – über die analoge gestülpt hat. Je handlicher das Gerät, desto kürzer die Intervalle, in denen wir es benutzen; und wer es nicht bewusst ausschaltet (um vorübergehend den Luxus zu genießen, nicht erreichbar zu sein) beteiligt sich unablässig an einer Kultur, die permanent sendet und empfängt und auf diese Weise gigantische Datencluster erzeugt.

Unsere reale Cyborgwerdung fällt also weit unspektakulärer aus, als es sich die Science Fiction vorgestellt hat. In ihr waren Cyborgs meist posthumane Horror- oder Allmachtsvisionen, die den Regeln der Schaulust folgten: mit Schnittstellen und Techno-Artefakten übersäte Wesen, grausige oder omnipotente Menschmaschinen, in deren Gestalt sich humane Anteile unauflöslich mit artifiziellen verwoben hatten. Der Cyborg der Science Ficition ist nicht nur physisch in digitale Informationsnetze eingebunden, sondern wird von denen manipuliert, die ihn steuern. Das macht ihn in einem schlechten Sinne zum Post-Menschen, der fremdgesteuert agiert und darüber jenes Eigene verliert, das Humanität ausmacht. Als Technomensch ist der Cyborg die Fortsetzung des Roboters mit anderen Mitteln. In beider Gestalt wird das jeweils zugrunde liegende Produktionsparadigma wesenhaft: menschenähnlich (im Falle des fordistischen Roboters) oder mit dem Menschen zu einem Hybridwesen (eben dem kontrollgesellschaftlichen Cyborg) verbunden.

Digitale Selbsterfahrung


Der Cyborg ist dennoch kein genuiner Entwicklungssprung des digitalen Zeitalters, auch wenn digitale Schnittstellentechnologie neue Prothesenformen bereitgestellt und alte verbessert, präziser und günstiger gemacht hat. Einen fundamentalen Bruch in der Technologiegeschichte markiert sie aber keineswegs. Was sie von älterer Technik unterscheidet, ist lediglich ihr Potential, die Wechselbeziehungen zwischen Mensch und Technologie zu steigern, in deren Abläufe sie ihn so unmittelbar einbindet, dass angesichts moderner Informationsarbeit der Eindruck eines Cyborgdaseins umso evidenter wird, umso passgenauer wir mit den technologischen Strukturen verwoben sind.

Die Digitalität ist dem Menschen der Gegenwart viel näher gekommen als andere bahnbrechende und epochemachende Technologien der Vergangenheit. Das hat nicht bloß mit ihrer vielfältigen Einsatzmöglichkeit und der Einführung des Personal Computers zu tun, der unseren Alltag unmittelbar in die digitale Welt einbindet. Digitalität ermöglicht es, Schnittstellen zu bilden und Systeme zu vernetzen, die bisher kategorial und substantiell voneinander getrennt waren. Sie ist in einer kulturhistorisch und technologiegeschichtlich neuen Weise ebenso integrativ wie transgressiv.

Anders als es dystopische Zukunftsvisionen entworfen haben, die in den 1970er Jahren vor allem im Umfeld alternativer Milieus im Umlauf waren, hat die Computerisierung aber keineswegs dazu geführt, das spezifisch Menschliche – Kommunikation, zwischenmenschliche Nähe, sinnliche Erfahrung und Selbstbestimmung – zu zerstören bzw. mit kalten programmierten Routinen zu überschreiben. Im Gegenteil: All das findet in digitalen Netzen neue Möglichkeiten, die sich als Erweiterung begreifen lassen und wenig mit jener kommunikativen Verarmung und Standardisierung gemein haben, die ihnen technophobe Ideologien unterstellten. Durch E-Mail oder soziale Netzwerke können wir Beziehungen über große räumliche Distanzen hinweg pflegen, die in dieser Form vor 30 Jahren noch nicht möglich gewesen wären. Via Videoskype sind wir Menschen nahe, die sich auf anderen Kontinenten befinden. Und diese Nähe unterscheidet sich qualitativ von kostspieligen Auslandsgesprächen, wie es sie auch schon vor dem Internetzeitalter gegeben hat, nicht nur weil wir dabei sehen und gesehen werden können. Das Telefonat verlangte nach einer konzentrierten, zeitlich begrenzten Interaktion. Per Skype können wir einen Abend miteinander so verbringen, wie wir es könnten, wenn wir uns in derselben Wohnung befänden. In vielen digitalen Fernbeziehungen (gleich welcher Art) hat sich ein Modell etabliert, bei dem die Skype-Verbindung bestehen bleibt, auch wenn jeder eigentlich eigenen Beschäftigungen nachgeht. Der andere ist da und ansprechbar, und geht uns dabei doch weniger auf die Nerven, als wenn wir im selben Raum aufeinander hocken würden.

Statt unsere Kommunikations- oder Ausdrucksfähigkeit einzuschränken, hat die digitale Welt ihre eigene hoch differenzierte Gesprächskultur entwickelt. Zu ihr gehören bestimmte Umgangsformen und eigene Ausdrucksmittel, die dem Medium (und seinen Limitierungen) entsprechen, wie zum Beispiel „Emoticons“, die der Email- und Forenkommunikation unmittelbare Dimensionen verleihen und dadurch jenen Mangel kompensieren, der entsteht, wo uns nicht mehr das gesamte menschliche Ausdrucksrepertoire (stimmliche Modulationen, Mimik, Gestik usw.) zur Verfügung steht. Das Prinzip der so genannten „Netiquette“ fordert uns wiederum zur Reflektion darüber auf, wie wir online kommunizieren und jene Anonymität gestalten wollen, die die Gesprächskultur in Netzforen kennzeichnet und zu Phänomenen wie den Trollen geführt hat. Wie alle Nähe erfordert die Nähe, die das Netz ermöglicht, also Moderation und Regeln.

Netzbasierte Kommunikation (die vielfältige Formen kennt, YouTube-Kommentare fallen hierunter ebenso wie Bloggen oder Twittern) hat den Radius, in dem wir uns austauschen können, erheblich erweitert. Sie bringt uns in Kontakt mit Menschen, denen wir in der analogen Welt vermutlich niemals begegnet wären. Dabei entstehen neue Intensitäten des Mitaneinanders, aber ebenso Formen der Distanzierung, die, dialektisch gewendet, intimen Austausch und ungehemmte Selbstaussprache erst möglich machen, eben weil wir hier nicht zwingend als jene Realperson erscheinen müssen, die wir angeblich sind. Im Schutze einer Nick-Persona, die unsere „wahre Identität“ verbirgt, können wir über das sprechen, was wir im analogen (Sicht-)Kontakt lieber verschweigen. Virtuelle „Entsubjektivierung“ erschafft neue Formen der Subjektivität und der Selbsterfahrung. Die digitale Repräsentation unserer selbst ermöglicht es uns, „fremde“ Weltausschnitte wahrzunehmen (und sei es nur, dass wir uns als heterosexueller Mann in Gay-Culture-Foren umsehen, zu denen wir offline nur schwer Zugang fänden). Sie hat sich längst auf eine gewisse Weise mit jenen Subjekten vermengt, die sie erschaffen. Von der Realität, die sie nicht bloß wiedergibt oder abbildet, sondern die sie zugleich erzeugt und abwandelt, ist sie nicht immer einfach zu unterscheiden.

Digitale Post-Subjektivität


Die spezifischen Weisen der Netzkommunikation erlauben es uns, Wunsch-Avatar_innen zu kreieren, mit denen wir uns im Netz bewegen und anderen Avatar_innen begegnen. In ihnen können wir ohne Konsequenzen fürchten zu müssen, Geschlecht und Rolle wechseln; wir können unsere alte Biographie abstreifen und sein, was wir – wenigstens für den Moment – sein wollen. So können wir Wünsche und Vorstellungen realisieren, die uns bislang verbaut waren. Hierin liegen emanzipatorische Potentiale begründet, die weit über das hinausweisen, was wir üblicherweise in Online-Rollenspielen, Chatforen oder „Second Life“-Welten tun.

Wo wir wählen können, als wer und mit wessen Stimme wir sprechen wollen, können wir über die Grenzen unserer angestammten Identität hinaus mit uns selbst intim werden, nämlich das an und in uns aufschließen, was in der Form, in der wir in der analogen Welt existieren und die uns durch Kultur, Gewohnheit und Rollenerwartung aufgeprägt ist, keinen Platz hat. Im Netz hingegen können wir uns in der Kommunikation, die wir betreiben, vor uns selbst verbergen und uns dabei immer wieder neu erfinden – und das solange und so oft wir es wollen. In einer gewissen Weise ist unsere Identität dabei selbst zur Information geworden, die sich digital bearbeiten und vervielfältigen lässt.

Für die digitale Informationsverarbeitung ist es im Prinzip gleichgültig, welche Information verarbeitet wird: Sie prozessiert und archiviert Bilder in der gleichen Weise wie Klänge oder medizinische Datensätze. Der digitale Code der Einsen und Nullen stellt in gewisser Weise eine Universalsprache dar, mit dem sich ganz unterschiedliche Weltausschnitte abbilden, verarbeiten und zueinander in Beziehung setzen lassen. Diese Universalität wäre letztlich als ihr spezifisches Moment zu beschreiben, das sie in die Lage setzt, zu entgrenzen und zu verbinden – und dabei neue Formen von Intimität herzustellen. Universell ist sie jedoch nicht bloß der Form nach, sondern vor allem in ihrem Gehalt: Das Hierarchisieren und Werten, das die menschliche Kultur lange Zeit geprägt hat, liegt nicht in ihrem Wesen, das kein Oben oder Unten kennt. Im Binären liegt alles gleich nahe beieinander oder gleich weit voneinander entfernt. Etwas von dieser Egalität geht im Gebrauch digitaler Technologien auch auf jene Subjekte über, die sich durch sie konstituieren – und sei es nur in der Erkenntnis, dass die Unterschiede, die die analoge Kultur vornimmt, nicht naturwüchsig sind, sondern Effekte jener Medien und Hilfsmittel, derer sie sich bedient.

Kein Medium vor dem Personal Computer und seinen zeitgenössischen Weiterentwicklungen bot im selben Maße die Möglichkeit, eigene Daten mit fremden derart intensiv zu vermischen. Weil wir heute zahlreiche Funktionen unseres Alltags in eine digitale Form gebracht haben, um sie durch Computer und das Netz verarbeiten zu können, haben wir zugleich die Möglichkeit geschaffen, andere an ihnen partizipieren zu lassen. Wir können unsere Daten und Archive (von Filmen, Musik oder künstlerischen Entwürfen) schnell und einfach tauschen, indem wir sie bereits online (in der Cloud) verwalten, übers Netz versenden oder uns gegenseitig per USB-Stick oder Wechselfestplatte überspielen. Was zuvor als Privatbesitz nur uns allein gehörte – und eine feststehende Persönlichkeitsgrenze markierte –, kann unter digitalen Vorzeichen wieder frei fließen. Damit lassen sich neue Formen der Kollektivität ins Werk setzen und eine Gemeinschaft, die nicht vom Besitz aus strukturiert und in Klassenhierarchien stratifiziert ist. Das Digitale ist aktuell ihr schlüssigster kultureller Ausdruck.

Die digitale Gesellschaft bietet somit eine verführerische Möglichkeit, die bürgerliche Subjektform zu überschreiten und neue, flüssigere Formen der Subjektivität in freier Assoziation zu entwickeln.

Die alte bürgerliche Subjektivität war auf Prozesse privater Selbstwerdung verwiesen, die nach einem abgeschlossenen und abschließbaren Raum verlangten: das eigene Heim und die weitgehend selbstbestimmte Lebensweise, zu der es befähigte. Als subjektiver Konstitutions- und Reproduktionsort blieb es scheinbar der ökonomischen Verwertung entgegengesetzt, die den Arbeitsalltag der Subjekte bestimmte. Erst in der so genannten „Privatsphäre“ entstand jene Eigenwelt, von der die anderen entweder kategorisch ausgeschlossen waren oder in die sie explizit eingeschlossen, z- B. eingeladen, wurden. Sie nahm in der bürgerlichen Wohnung und ihren heteronormativen Beziehungsformen – Familie und Ehe – ideologische Gestalt an. Wo wir hingegen das Private zu einer Funktion digitaler Netze machen, können endlich andere, das heißt weniger abgeschlossene und nicht-exklusive Lebensformen entstehen, wie sie etwa die „Post-Privacy“-Bewegung propagiert. Das Private ist nämlich auch insofern das Politische, weil wir uns in ihm in jene Subjekte gesellschaftlicher Trennungen und Zuordnungen verwandeln, die die bürgerliche Gesellschaft verlangt.

Die digitale Nähe der Macht


Natürlich dürfen wir keineswegs annehmen, dass sich allein auf dem Wege einer technologisch implementierten Neuordnung der Lebenswelt – gleichsam wie von selbst und als deren Nebenwirkung – andere gesellschaftliche Beziehungsverhältnisse einstellen als jene, denen wir auch in der digitalen 2.0-Version der kapitalistischen Ökonomie unterworfen bleiben. Die technologische Erneuerung undialektisch mit einer Heilserwartung aufzuladen, wäre fatal, da Technologie und die Weisen, wie wir sie nutzen, selbst mit den ökonomischen Verhältnissen verbacken sind; wie alles andere eben auch. Wo Menschen einander auf digitalem Wege begegnen, tun sie dies immer noch als Herr_innen und Knechte, und zwar solange sich die analogen Verhältnisse digitaler Mittel bedienen, um sich in ihnen zu reproduzieren und durch sie zu erneuern. Skepsis gegenüber vollmundigen Netzweltutopien ist also durchaus angebracht: Die Digitalisierung mag bestehende Machtstrukturen unterminieren, aber die sind wiederum lern- und anpassungsfähig. Digitalität ist kein freischwebender und auch kein herrschaftsfreier Raum. In ihm sind dieselben Machtbeziehungen wirksam wie in jener Welt, die ihm vorgelagert ist. Dies ist selbstverständlich kein spezifisches Problem der digitalen Emanzipation. Die Digitale Kultur teilt ihre Aporien mit allen anderen Projekten, die die bestehenden Verhältnissen verändern oder zumindest reformieren und „menschlicher“ gestalten wollen.

In dieser Hinsicht enthält die digitale Lebensweise sogar ein besonders Gefährdungsmoment: Die Datenspuren, die wir im Netz erzeugen, können von anderen ausgelesen und ausgewertet werden. Mit der zunehmenden Verlagerung immer weiterer Lebensbereiche in den digitalen Raum wird das, was wir immerhin nicht mit jedem und schon gar nicht mit Staat und Markt teilen wollen, erfass- und operationalisierbar. Klandestine Strukturen ließen sich aktuell wohl am ehesten noch unter Verzicht auf digitale Mediennutzung realisieren.

Zudem ist längst nicht mehr nur der Staat an unseren Daten interessiert. Auch für privatwirtschaftliche Akteur_innen kann es verlockend und profitabel sein, unser Netzverhalten auszuspionieren. Die digitale Technologie schafft dabei ganz neue Möglichkeiten, die Nachstellungen der Ökonomie bis in unsere intimen Rückzugsräume auszudehnen. Und unsere Daten verraten ihr mehr über uns, als wir glauben!

Wo das alte Private also immerhin noch Zufluchtsort vor einer von ökonomischen und ideologischen Interessen durchherrschten Öffentlichkeit war – an dem sich z- B. eine abweichende Sexualität und ein gewisses Maß an Nonkonformität ausleben ließen –, entfaltet die Transparenz digitaler Lebensweisen einen neuen Anpassungsdruck, und zwar in genau dem Maße, in dem sie uns dazu verführt, Grenzen zu überschreiten und neue Erfahrungen zu machen. Wo wir dies tun, hinterlassen wir allerdings stets einen Abdruck, der sich problemlos auswerten lässt. Mittels unserer IP-Adresse kann, was wir im Netz tun, ganz eindeutig uns (oder zumindest unserem Verantwortungsbereich) zugeordnet werden. Die digitale Freiheit hält also eine Reihe von Fallstricken bereit, die sie doch immer wieder einschränken. Die im Netz erzeugten Datenspuren zu tilgen (oder sie gar nicht erst zu hinterlassen), setzt Expert_innenwissen voraus, das kein allgemeiner Bestandteil von User_innen-Know-how ist. Ebenso wenig wie alle, die einen PKW besitzen, auch dessen Keilriemen auswechseln können, beherrscht das digitale Subjekt jene Technologie, der es sich anvertraut, meist nur recht (benutzer)oberflächlich.

Die bewusste Gestaltung des Unvermeidlichen


Die Digitale Kultur hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Beziehung des postfordistischen Subjekts zu den Geräten bewusst zu gestalten und dabei andere Aspekte und Ansprüche zu berücksichtigen als bloß die Prozessoptimierung im Sinne von Profitmaximierung und möglichst reibungslosen Verwertungskreisläufen. Das sich über Gerätbeziehungen konstituierende (und Beziehungen vor allem über diese Geräte pflegende) postfordistische Subjekt hegt nämlich zurecht den Verdacht, dass die Technologie, der es in Arbeit und Freizeit unterworfen ist, es vor allem konditionieren und in den Modus seiner optimalen Verwertung einüben soll.

Damit ist die digitale Welt zwar nicht jene kalte Unmenschlichkeit einer in perfiden Computernetzwerken verankerten Super-Bürokratie (wie sie die Dystopien der 1970er und 1980er entworfen haben). Aber sie ermöglicht die unausgesetzte kapitalistische Inwertsetzung des Menschen, die noch mit jeder neuen Technologiegeneration perfektioniert wurde. Dies ist kein genuines Problem von Technologie, sondern das Wesen und der wertschöpferische Kern jener bürgerlichen Gesellschaft, die noch immer den gesellschaftlich-ökonomischen Rahmen jeder Gerätbeziehung bildet.

Cyborgs (in einem Arnold-Schwarzenegger-Sinne) werden wir also vor allem da werden, wo wir es unwidersprochen hinnehmen, dass über unsere Schnittstellen zum Digitalen die virale Ideologie der Effizienz in unsere Persönlichkeitsdatenbänke eingespeist wird.

Erfolgreich ist die digitale Konditionierung vor allem, weil sich – wie oben beschrieben – mithilfe digitaler Technologie ganz unterschiedliche Alltagsfunktionen, Bedürfnisse und Lebensausschnitte in dieselbe technologische Struktur übersetzen und in einem einzigen Gerät zusammenfassen lassen: So verbringen wir unsere Arbeitszeit vor demselben Apparat, den wir auch zur Gestaltung unserer Freizeit nutzen, was die Integration des einen in das andere – und der Arbeit in die gesamte tägliche Wachzeit – befördert. Die für eine fordistische Arbeitswirklichkeit charakteristische Aufspaltung des Lebens in Phasen der Produktivität und der (diese begründenden und erneuernden) Reproduktivität werden durch die Universalität des Computers aufgehoben, nicht aber, um das Produktivitätsparadigma an sich zu überwinden, sondern um ihm auch jene Abschnitte unseres Lebens einzuverleiben, die bisher der Verwertung entzogen blieben.

Diese Tendenz zeigt sich an der fortschreitenden Integration von unverbundenen Einzelgeräten in einen einzigen Universalapparat, und zwar gerade im Bereich der Freizeit: Fernseher, Radio; Telefon oder Stereoanlage sind heute in kompakten Laptops zusammengefasst, die wir mit in den Zug, ins Flugzeug oder ins Café nehmen können und die sich auf diese Weise unserem Bedürfnis nach räumlicher Ungebundenheit anschmiegen. Dieses Bedürfnis wiederum entspricht aber nicht ausschließlich jenem Freiheitswunsch, mit dem es sich gleichwohl bis zur Unkenntlichkeit vermischt hat, sondern paraphrasiert die ökonomische Anrufung der „Flexibilität“. Dass wir unsere Bücher, Platten, Fotoalben, DVDs etc. längst digital integriert haben und problemlos umziehen können, versetzt uns in die Lage, den fluktuierenden Orten unserer Verwertung immer schneller und bereitwilliger hinterher zu reisen.

Weil sich in Laptops und Smart Phones unter den gegenwärtigen Bedingungen vor allem die Notwendigkeit spiegelt, beweglich statt ortsgebunden zu sein, enthält die fortlaufende Komprimierung unseres Lebens (und des Raumes, den wir für seine Utensilien benötigen) im Rechner ein Freiheits- und Entgrenzungsmoment, das doch zugleich einen Zwang exekutiert, der nicht nur der unserer Peer Group ist (die es spleenig fände, sich mit allzu vielen analogen Artefakten zu umgeben, für die es bereits digitale Surrogate gibt, und dergestalt räumlich zu binden). Es ist der Zwang zu optimaler Verwertung, der im Gewand dieser Freiheit auftritt. Beide sind dabei weder schlicht dasselbe noch rückstandslos voneinander abzulösen.

Die Abhängigkeit der Unabhängigkeit


Die Unentschiedenheit der Freiheit im Netz entspricht jener prekären Intimität des Digitalen, in dessen Zeichen das vormals Verschiedene und Getrennte so miteinander verschmilzt wie unser Leben mit dem Gerät. Die Unabhängigkeit, die es uns verspricht, ist zugleich eine Abhängigkeit – eine der vielen Paradoxien der kapitalistischen Warenform, in der uns das Gerät auch da gegenübertritt, wo es (bzw. die Software, die darauf läuft) unter Creative Commons steht.

Zu dieser Abhängigkeit gehört es, dass wir – in unserem verständlichen Wunsch nach Unabhängigkeit – viele Aspekte unseres Lebens in ein und dieselbe Universalform übersetzen, die zugleich die unserer Arbeit ist. Selbst unsere erotischen Fantasien lassen sich so in unser Arbeitsumfeld integrieren – zumindest in Form einer stets im Übermaß verfügbaren Onlinepornographie, die uns nahtlos von der Arbeit an einem digitalen Projekt in unser intimstes Begehren umschalten oder sogar beide simultan nebeneinander laufen lässt.

Die Info-Worker_innen der digitalen Kultur, die hinsichtlich der postfordistischen Umwälzung der Arbeit eine (zudem noch propagandistisch verwertbare) Vorreiter_innenrolle einnehmen, müssen sich darüber bewusst sein, dass ihr Lebensstil, so glamourös er fallweise aussehen mag, ein Experimentierfeld für den erweiterten Zugriff des Inwertsetzungsparadigmas auf das gesamte menschliche Leben darstellt.

Dies bedeutet, dass wir uns darüber klar werden müssen, welche Nähe zum Gerät wir uns wünschen und welche wir als aufdringlich im Sinne der Forderung nach permanenter Verfügbarkeit, Einsatzbereitschaft und marktwirtschaftlichen Adressierbarkeit zurückweisen wollen.

Die Nähe, in der wir mit unseren Geräten leben, ist kein Verhängnis, sondern eine Beziehung, die wie alle Beziehungen ausgehandelt und gestaltet werden muss. Wir müssen uns daher fragen, wie wir in der Intimität, in der wir mit unseren Geräten leben, leben wollen und wie wir damit gut leben können, ohne uns von den Geräten (und den durch sie vermittelten) fremden Interessen beherrschen zu lassen.

Anstatt in ihnen bloß die Beschwerlichkeit eines nie versiegenden Stromes an Arbeit und ökonomische Anrufungen (wie „Vernetzung“, „Flexibilisierung“, „Selbstbestimmung“) zu erblicken, können wir sie nämlich durchaus gegen ihre Intention als Arbeitsmittel nutzen. Wie dies möglich ist und was wir dafür brauchen – welche Praxis, welche Netzkultur, welche Technik, welche Begriffe und welches Verhältnis zum Gerät und durch das Gerät zueinander –, das sind Fragen, denen paraflows .9 nachgehen möchte.

Ebenso wie unser Leben mit dem digitalen Kulturraum verwoben ist, sind es jene Begriffe, in denen wir unsere Emanzipation von fordistischer Disziplinierung betreiben. Wie können wir das, was daran bloß postfordistische Usurpation ist, von dem trennen, was wir uns in ihnen wünschen und mit ihnen durchzusetzen hoffen? Wo lassen sich unsere Geräte gegen die Interessen derjenigen nutzen, die sie als Produktionsmittel mit integrierter Reproduktionsfunktion propagieren und die die Freiheit des Digitalen bloß als Freiheit zu noch tieferer Verstrickung in unsere Verwertung verstehen können?

Welche Freiheitspotentiale liegen in digitaler Arbeit, dem Näheverhältnis und den integrativen Potentialen begründet, die ihre Produktionsmittel implizieren? Welche Art von Nähe – zu uns selbst, zu anderen und zum Digitalen – enthalten und welche Nähe verunmöglichen sie? Wie viel von unserem Innersten sollen wir ihnen und anderen (in ihrem Gebrauch) preisgeben? Welche Formen uns zu verbergen, bietet uns das Netz und was sind seine realen Gefahren (jenseits von jenem traditionellen Alarmismus, den jede technische Umwälzung auf den Plan ruft)?

Und: Wie wollen wir als Digitale Kultur mit ihnen umgehen, wo sie doch unvermeidlich und als deren Rückseite zu den neuen Freiheiten dazugehören?

Wie müssten die Geräte beschaffen sein, um die Beziehungen, die wir mit ihnen und in ihrem Gebrauch eingehen, entsprechend unserer Wünsche und Bedürfnisse zu führen – und nicht entsprechend derer des Marktes und der Verwaltung? Wie kann unsere Beziehung zu den Geräten alte Utopien einlösen, etwa die nicht-privilegierter Zugänge zu Kultur und Technologie, aber auch die von „Luxus“ und „Eleganz“, die dann freilich mehr sein müssten als bloß griffige Schlagworte ihrer Vermarktungsstrategien?

Lässt sich die Intimität, in der wir als Digitale Kultur bereits heute mit unseren Geräten leben, als Modell für die gesellschaftlichen Gerätebeziehungen überhaupt begreifen? Oder stellt unsere Kultur nur eine Nische dar, in der diejenigen (gut) leben können, die über das nötige Hintergrundwissen verfügen, und damit über Strategien, die impliziten Gefahren der Digitalisierung abzuwehren?

Worin besteht jene Erotik der Geräte, die wir an ihnen bemerken, ohne wirklich benennen zu können, was diese ausmacht – jenseits der Floskel von der „Benutzer_innenfreundlichkeit“, designerischem Schnickschnack oder Cybersexfantasien? Wie – durch welche sinnliche, ästhetische oder interaktionelle Qualität – bringen sie uns dazu, mit ihnen zu arbeiten und ihnen immer mehr Macht über unser Leben einzuräumen, ihnen zu vertrauen und – auch das – an sie zu glauben? Wo verführen sie uns dazu, uns unserem Begehren hinzugeben und wo dazu, bloß das mit ihm anzustellen, was andere von uns erwarten? Wie sollen wir dabei der Gefahr begegnen, durch die Verführungskraft der Geräte ein Begehren zu entwickeln, das fremden Interessen entspringt oder diese in uns verankert?

Was verrät uns unsere Nähe zum Gerät über uns selbst, über unser Wünsche, Träume und Ängste, über unser Beziehungsverhalten und die ideologische Bedeutung der Beziehungen in der Kontrollgesellschaft?

Inwieweit und wann dienen unsere Geräte dem, was in der einschlägigen Literatur „Selbsterfahrung“ heißt – und was bedeutet das dann eigentlich, für uns und für die Technologie?

Welche spezifisch neuen oder in der analogen Welt längst vergessenen Formen der Emotionalität ermöglichen uns Netz und Rechner? Auf welche Weise lassen sich analoge Formen einander kennen zu lernen und nahe zu sein, digital simulieren, umsetzen, ausweiten und verbessern?

Welche subversiven Formen der Nähe und der Näherung sind im Netz möglich, und wie müssen wir diese als digitale Kunst und Kultur reglementieren?

Und. Welche Bedürfnisse und Wünsche sprechen wir aus, wenn wir unsere Geräte personalisieren, ihnen Namen geben oder ihnen besonders einfühlsame Züge (und HAL-Stimmen) verleihen?

Was können wir von unserer Beziehung zu den Geräten über uns selbst lernen und was über jene Welt, in der diese Beziehung ihren Ort hat? Anders gefragt: Was wollen wir von den Geräten, und was wollen sie von uns?


Frank Apunkt Schneider/Günther Friesinger