Identität im digitalen Zeitalter

Identität als Bauplan des Subjekts

Das Prinzip der Identität ist der Kern des modernen Subjekts, das sich in seinem Selbstsein gegenüber der Welt und den Anderen abgegrenzt. In ihm kann es sich als etwas Eigenes behaupten, das für sich selbst steht, eigene Interessen verfolgt und über „Persönlichkeitsrechte“ verfügt. 

Das Subjekt stellt seine Identität sich und anderen unter Beweis, indem es mit sich selbst übereinstimmt. Von dieser Selbstheit aus bestimmt es seine Position in der Welt und es organisiert sich, indem es kontingente Erfahrungsbestandteile so anordnet, dass Einheit entsteht, wo zuvor bloß diffuse Vielheit war. 

Die bisweilen fragile und prekäre Identität mit sich selbst basiert dabei auf einer Unterscheidung von Eigenem und Fremdem. Das Eigene ist aber nicht bloß das Subjekt an und für sich, sondern es lagert sich gleichsam konzentrisch um dieses herum an – in Form sozialer Formationen und Praxen, denen es sich zugehörig fühlt. Sie bilden Identitätsschnittmengen: Freund_innen und Beziehungsformen, Berufsbilder und Kolleg_innen, geografische und soziale Verortungen (Gegend, Volksgruppe, Nation) etc. sind Aspekte von Identität, nicht nur wo wir uns emphatisch auf sie beziehen. In jenen Gemeinsamkeiten, die wir mit anderen teilen, eröffnet sich ein identitätsstiftender Sozialraum. 

Derlei Situierungen machen aber nur Sinn, wenn es zu jenem Innenraum, den sie herstellen, auch den Komplementärkontrast eines Außen gibt: das „substantiell“ Fremde und Andere, das wir durch die besondere Form unserer Identität eben gerade nicht sind. Nur um den Preis dieser Abspaltung ist Identität zu haben. Wir stellen sie uns in der Regel als etwas vor, das nach außen abgeschlossen und stabil ist und nach innen über ein Bewusstsein von sich selbst verfügt, das keine allzu großen Widersprüche aushalten muss. Sie ist dabei mehr als die Summe ihrer Teile: nämlich das Ganze und dessen Organisationsprinzip. Als Kontrollinstanz durchherrscht und konstituiert Identität all das, was die Innenwelt des Subjekts enthält. Selbst-Beherrschung ist sie dabei in mehrfacher Hinsicht: als „der Staat im Staat in der ersten Person“, wie es in einem frühen Song der Gruppe Blumfeld heißt.

Psychologisch ist die Findung oder auch: die Konstruktion der je eigenen Identität ein Prozess, in dessen Verlauf wir Selbst-Erkenntnis und Selbst-Beherrschung erlernen. Sie fügt bedeutungsvolle und sinnhafte Erfahrungen zu einem stimmigen, in sich ausgerundeten Ganzen. 

Subjekt, Identität und das Individuum, das beides zur Deckung bringt, sind historisch eingebettet in die bürgerliche Gesellschaft, die Identität als Ausgangspunkt für den freien Willen und die Selbstbestimmung setzt, für die autonome Person und ihre abstrakte, individuelle Freiheit. Sie alle lassen sich nur als Eigenschaften des identischen Subjekts sinnvoll denken, das sich in einem Prozess der Abgrenzung und Angleichung ausformt und immer wieder beweisen muss. Unsere Sozialisation zum mit sich selbst identischen Subjekt durchläuft dabei Phasen der Zugehörigkeit und der Ablösung. 

Vor allem ist Identität aber Arbeit: am Selbst, indem wir jene Warenform herstellen, in der wir einander gegenübertreten. Sie setzt uns ökonomischen Anrufungen aus, denn auf dem spätkapitalistischen Menschenmarkt sind wir immer nur so gut, wie wir als ein fest umgrenztes Bündel von Eigenschaften und Fähigkeiten in Erscheinung treten. Begriffe wie der vom Humankapital oder die immer wieder eingeforderte „Kompetenz“ erlegen uns Kontinuität und Kalkulierbarkeit auf: Sie müssen mit der konkreten Person, die ihre Trägersubstanz ist, eine dauerhafte Bindung eingehen und werden auf einem Weg erworben, der keineswegs sprunghaft und willkürlich verläuft.  

In unserer Identität werden wir beherrscht (von uns selbst und den Bedingungen unserer Verwertung) und verwaltet (wie sich z. B. bei der polizeilichen Identitätsfeststellung zeigt). Und wir werden berechenbar: als Spielmarken für ökonomisches Kalkül, nicht nur da, wo es uns Identitätswaren verkaufen will, die mit einem bestimmten Lebensstil oder einer besonderen Gruppenzugehörigkeit verbunden sind. 

Erst durch Selbst-Beherrschung und Widerspruchsfreiheit in uns selbst können wir anderen als Individuum begegnen: als Subjekt, als Ich, als Persönlichkeit und als Person, um dann im Namen jener Entität, die wir in der Identität geworden sind, mit ihnen zu kommunizieren und zu verhandeln. 

Das Subjekt stellt in einem gewissen Sinne die Verkehrsform der bürgerlichen Gesellschaft dar. Es garantiert, dass wir für unsere Handlungen verantwortlich gemacht werden und in Beziehungen eintreten können: persönlich und geschäftlich. Als Selbstbeherrschte tun wir, was wir tun, stets im Rahmen von Wahlmöglichkeiten. Weil wir uns entscheiden können (und erst dadurch unser Subjekt in seiner Souveränität zur Geltung bringen), müssen wir uns nicht mehr von naturwüchsigen Trieben oder ungefilterten Impulsen überwältigen lassen. Ohne die Verantwortlichkeit für uns selbst wären wir nämlich weder geschäfts- noch gesellschaftsfähig. Wir blieben unmündig wie Kinder oder jene Menschen, die aus diesem oder jenem Grund für unzurechnungsfähig erklärt werden. 

Und dennoch setzt sich unser Selbst keineswegs unvermittelt selbst. Es entsteht da, wo und in dem Maße, wie es uns gelingt, das individuell Besondere, das uns ausmacht, und das überpersönliche Allgemeine in Einklang zu bringen, das die Gesellschaft als jenen Rahmen setzt, den wir ausfüllen sollen. Im ausgereiften Subjekt sind das Fremde und das Eigene in einem Maße verwoben, dass sich das eine nicht mehr vom anderen ablösen lässt. Beide greifen ineinander, bis sie sich im Idealfall ganz entsprechen. Dass wir diesen Fall nie voll realisieren können, und die realen Subjekte in ihrer Warenform immer zugleich „Mangelwaren“ bleiben, macht das Drama, die innere Gespanntheit und das manchmal spektakuläre Scheitern (an sich selbst) des bürgerlichen Subjekts aus, von dem uns die Kunst beinahe schadenfroh und in obsessiver Weise immer wieder erzählt. 

Identität ist also weder nur gesellschaftliche Schablone, in die sich das Subjekt einfügt (um dann wieder aus ihr hervorzugehen), noch lässt sie sich bloß vom Subjekt aus bestimmen, das sich in ihr eingerichtet hat. Sie ist ein dialektischer Prozess, der im Spannungsfeld von Eigen- und Fremdwahrnehmung, von Eigentümlichkeit und Norm, von konkretem Individuum und der Ideologie der „Individualität“ verläuft. Zwischen diesen Polen muss sie stets aufs Neue ausgehandelt werden. Dass sich „Eigenes“ und „Fremdes“ dabei nicht als klar umrissene Einheiten gegenüberstehen, macht das Ringen um Identität nicht eben einfacher: Im Eigenen ist Fremdes immer schon enthalten und unser Innerstes ist ebenso ein Produkt der gesellschaftlichen Beziehungen wie jene Ansprüche, mit denen es konfrontiert wird. Selbstbilder sind durchzogen von Normativität; Selbstwahrnehmung ist internalisierte Fremdwahrnehmung. Dass wir Gefühle haben, wie sie heißen, sich anfühlen und was sie bedeuten, wissen wir aus Gesprächen, Büchern, Filmen oder Liedern. Wie unsere Bedürfnisse und unsere geheimen Träume sind sie sozial konstruiert, eingeübt und am Modell erlernt. Aus ihnen spricht - auch wo sie uns zu überwältigen scheinen - die Selbst-Beherrschtheit in Form jener gesellschaftlichen Verhältnisse, aus denen unser Ich zusammengesetzt ist.

Seinem Wesen nach ist das mit sich selbst identische Subjekt also nicht unbestimmt, sondern etwas durchaus Bestimmtes. Seine Selbst-Bestimmung verläuft auf unterschiedlichen Ebenen und ist durchzogen von Bestimmungsmerkmalen und Markern, die Teile unserer Identität festlegen und deren Mechanismen unserem Zugriff entzogen bleiben: z. B. das Geschlecht und die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Klasse oder Ethnie. „Biologisch“ soll das Subjekt männlich oder weiblich sein (auch wenn es ihm mittlerweile bis zu einem gewissen Grad und abhängig vom jeweiligen Rahmen gestattet ist, mit Geschlechterrollen zu spielen), und wo es das nicht in eindeutiger Weise sein kann, besteht immerhin Erklärungsbedarf und jene Identitätsprobleme müssen bearbeitet werden, die drohen, wo eigene Identität nicht mit den verfügbaren Identitätsangeboten übereinstimmt. 

Viele Bausteine unserer Identität artikulieren gruppenspezifische Zwänge, in deren Rahmen wir uns als etwas Eigenes behaupten müssen: jene Rollen, die wir für andere zur Aufführung bringen. Unser Spielraum und unsere Gestaltungsmöglichkeiten fallen dabei vergleichsweise gering aus, wo wir uns selbst, d. h. unser mit sich identisches Selbst gestalten. Vielleicht ist Identität deswegen so häufig krisenhafte Erfahrung. Die Frage „Wer bin ich (wirklich)?“ haben wir uns alle schon gestellt, auch wo wir die Pubertät (in der ihr zentrale Bedeutung zukommt) längst hinter uns wissen. Wo es uns nicht gelingt, eine widerspruchsfreie Identität einzurichten, erleben wir „Identitätskrisen“, die bis zum so genannten „Identitätsverlust“ reichen können. Er hat nicht selten den realen oder wenigstens den gefühlten Verlust des Sozialen zur Folge. 

Identitätsgewissheit und jene Selbst-Verständlichkeit, die die gelungene Verwirklichung von Identität mit sich bringt, sind ein gesellschaftliches Ideal, das Abweichungen nur unter bestimmten Bedingungen gestattet: Künstler_innen werden wir z. B. eher zugestehen, weder Mann noch Frau zu sein als Fußballspieler_innen, Polizist_innen oder katholischen Priestern.

Identität ist also auf vielfache Weise Herrschaftsinstrument. Sie tritt den Subjekten als Anrufung entgegen: als elaboriertes pädagogisches Konzept, als verrechtete Norm, in Form alltäglicher Floskeln oder als kulturindustrielles Produkt, z. B. in jenen Persönlichkeitsformaten, die andere exemplarisch für uns ausfüllen und die wir gerade dafür bewundern, dass sie in überzeugender Weise „Selbst“-Darsteller_innen sind. Die Inszenierung als authentischer Typ, der sich nicht verbiegen lässt, ist ein sehr erfolgreiches Muster, mit dem sich Popstars oder Schauspieler_innen in der Öffentlichkeit präsentieren. Und nicht von ungefähr lautet die stereotype, in letzter Konsequenz aber stets unerfüllbare Anweisung, die Juror_innen in Castingshows ihren Kandidat_innen geben: „Sei einfach ganz du selbst!“

Identität ist damit gesellschaftlicher Zwang und Wunschbild zugleich, dem wir nie ganz (und nie so perfekt wie die Identitätsdarsteller_innen, die uns die Kulturindustrie vorführt) gerecht werden können. Sie ist das Unmögliche, das wir möglich machen müssen, indem wir uns aus Fremdzuschreibungen ein Eigenes konstruieren. Es muss uns von den anderen unterscheiden und darf doch deren Identität nicht in Frage stellen, die sich darin verbürgt, dass wir auf unsere jeweils eigene Weise genauso sind wie sie. Symbolische oder sogar reale Gewalt wird denen zuteil, die eine Identität unabhängig von der der anderen beanspruchen. Nur die anderen nämlich können bestimmen, wie sehr wir „wir selbst“ sein dürfen. Als gesellschaftliche Anrufung ist Identität also vor allem ein double-bind: eine Botschaft, die sich selbst widerspricht. Sei was du bist, aber so, dass du dich darin nicht von uns unterscheidest oder die Grenzen dessen, was du sein darfst, überschreitest! 

 

Die multiplen Identitäten der digitalen Welt

Als Warenform des Subjekts, als Zurichtung und Einübungsinstanz und als besondere Form einer „individualistischen Normierung“ ist das Konzept der Identität schon auf vielfältige Weise kritisiert und dekonstruiert worden: im Rahmen der Kritischen Theorie ebenso wie innerhalb der generell identitätskritischen Gender Studies, in den Cultural Studies und in der so genannten „Poptheorie“, im Umfeld von Strukturalismus und Poststrukturalismus usw. Sie alle korrespondieren dabei in der einen oder anderen Weise mit jener digitalen Kultur, die mit der Einführung des Personal Computers als Standardgerät, mit den schier grenzenlosen Möglichkeiten digitaler Datenbearbeitung und schließlich mit der flächendeckenden Durchsetzung des Internets entstanden ist. 

Der tägliche Umgang mit digitaler Technologie hat dabei jene Konzepte des Echten, Originären und Authentischen, die dem Konzept der Identität zugrunde liegen, nachhaltig beschädigt. Bilder und Fotografien können heute mühelos verändert, retouchiert und vervielfältigt werden. An die Stelle des Originals, dessen Autorität gerade darin gründet, so und nicht anders zu sein, tritt so eine endlose Reihe der Versionen und Adaptionen, Kopien und Bearbeitungen, bis sich am Ende die lange Zeit erkenntnisleitende Vorstellung von ihm aus den Köpfen zu verflüchtigen beginnt. 

Insbesondere das Netz wird immer wieder als Einlösung eines postmodernen Unbehagens am Prinzip der Identität betrachtet (aktuell z. B. im Rahmen der „Post Privacy“-Bewegung). In ihm können wir beispielsweise Fernbeziehungen eingehen, in denen reale Präsenz durch abstrakte Zeichensysteme simuliert wird, bis sich das Wesenhafte in Erscheinung auflöst. Selbst sexuelle Begegnungen, die bislang an die unmittelbare physische Anwesenheit der Beteiligten geknüpft waren, werden im virtuellen Raum möglich bzw. integrieren schon viel mehr sensuelle Aspekte als vor ihnen bereits das Telefon oder der anzügliche Brief. Und das bislang noch nicht serienreif umgesetzte Versprechen von so genanntem „Cybersex“ begleitet die Entwicklung der Schnittstellentechnologie (explizit ausgesprochen oder nicht) nun schon seit Jahren. 

Als Avatar_innen wiederum können wir uns schon heute durch mannigfaltige digitale Räume bewegen – nicht nur in der Online-Alternativwelt von „Second Life“. 

Auf all diese Weisen beginnen sich jene Identitäten zu „verflüssigen“, die uns die analoge Welt aufzwingt. Statt weiterhin sein zu müssen, was wir angeblich sind und sowieso schon immer waren, eröffnen Netz und digitale Technologie einen Raum, in dem wir uns selbst überwinden können, um uns neu zu erfinden und anders zusammenzusetzen, wie in jenen Online-Rollenspielen, bei denen wir Wunschkörper für unsere Spielfiguren nach eigenem Gutdünken aus all dem zusammensetzen können, was uns die Datenbank anbietet. Dadurch wird es möglich, unsere Identität zumindest einen Moment lang abzustreifen und – wenigstens spielerisch, aber mit nicht zu unterschätzendem Symbolcharakter – dem statischen (So-)Sein ein im Prinzip unabschließbares und sprunghaftes „Werden“ entgegenzusetzen, eine Utopie bzw. ein (mikro-)politisches Programm, das Gilles Deleuze und Félix Guattari bereits während der 1970er entworfen haben. 

In Foren können wir als das erscheinen, was wir gerne wären oder wenigstens für den Moment sein möchten. Dabei sprengen wir die Fesseln unserer erstarrten Identität. Es kostet uns nur ein paar Klicks und etwas Fantasie, das zu sein, was in der analogen Welt nur mittels aufwändiger Operationen möglich wäre, bei denen wir z. B. unser Geschlecht neu bestimmen. Die flüchtigen, brüchigen oder gleitenden, die uneindeutigen, multiplen und transitorischen Identitäten, die uns die digitale Repräsentation ermöglicht, gehören zum Freiheitsversprechen des Netzzeitalters: „On the internet nobody knows you are a dog“, hieß es einmal in der Bildunterschrift eines Cartoons (der einen Hund vor dem Rechner zeigte).  

Digitale Technologien haben die alte geronnene Identität gehackt und ihren Quellcode freigelegt. So können wir mit dem spielen, was früher unverbrüchliches Schicksal war. Und indem wir davon Gebrauch machen, lernen wir, dass Identität stets bloß Konstruktion ist. Wir können in sie eingreifen, wenn wir über die entsprechenden Produktionsmittel verfügen. In einer utopischen Lesart der digitalen Praxis lässt sie sich also als antiidentitäre Kultur lesen, weil sie die scheinbar selbst-evidenten Konzepte von Subjekt und Identität als Ideologie entlarvt und neu zur Disposition gestellt hat. 

 

Remaking Identity: Identität als digitale Kunstform

So wie Hacker_innen ihre Geräte öffnen, um die in ihnen verborgenen Programmstrukturen freizulegen, lässt sich auch unsere Identität cracken. Wo uns dies gelingt, können wir mit ihr spielen. Wir verschaffen uns auf diese Weise Einblick in die Baupläne von Subjektivität und Identität, und das heißt: in uns selbst – und erkennen sie als das, was sie sind, Programme, die auf uns (ihrer Hardware) laufen. 

So verlieren sie ihr Schicksalhaftes und das Unvermeidlich-Ausweglose, das klassischen Identitäten anhaftet. 

Deren Krisenanfälligkeit war seit jeher ein zentrales Thema künstlerischer Werke: Romane, Filme, Theaterstücke, Bilder, Lieder und Skulpturen erzählen uns vom Problem der Identität, von der Suche danach, vom Prozess, in dem wir sie erwerben (z. B. im „Coming of age“-Genre) oder wieder verlieren, vom Ausbruch aus ihr und dem waghalsigen Spiel damit (das Hochstapler_innen wie Thomas Manns Felix Krull betreiben) und immer auch davon, dass sie nur konstruiert ist. Das haben uns insbesondere fiktive Künstler_innen immer wieder vorgeführt. 

Und dennoch wird Kunst immer auch als der genuine Ausdruck der Identität ihrer Produzent_innen verstanden. Sie bleiben sich in ihr entweder treu (wie Baselitz) oder wandeln sich beständig (wie Picasso). Sie können sich ihr produktiv oder spektakulär verweigern (wie die Kollektivperson Luther Blissett), aber in der Verweigerung von Identifizierbarkeit auch wiederum zur begehrten Kunstmarke werden (wie Banksy). Eine besondere Form von Identität entsteht, wo diese als Spiel begriffen wird wie von jenem Bob Dylan, den Todd Haynes in seinem Film mit dem programmatischen Titel „I’m not there“ entworfen hat. Ebenso kann Kunst Ausdruck der Identifikation mit anderen sein, sei es politisch (als Solidarität) oder sozial (durch Verortung). Sie findet in einem Spannungsfeld von Identitätsbehauptung und Identitätskonflikt statt, und noch immer ist Identifizierung ihre wichtigste Verständnisfolie (in der Figur hat sich der Autor selbst dargestellt, das Motiv ist biografisch geprägt usw.).

Die Dialektik der Identität als aufgezwungenes Eigenes darf uns die Kunst dabei vor allem deswegen vor Augen führen, weil sie sich zumeist auf den ideologisch unproblematischen Rahmen symbolischer Darstellung beschränkt. Dort greift sie das auf, was wir alle ahnen, aber von dem wir im Alltag nichts wissen dürfen: Was wir sind, sind wir nicht für uns, sondern für andere, die unsere Identität in der einen oder anderen Weise verwerten.

Das paraflows-Festival versteht sich als Reflexionsort der digitalen Kultur, vor allem was den Standort der digitalen Kunst (nicht nur im Verhältnis zur analogen) betrifft. Sie hat sich längst vom klassischen Werkverständnis (und damit vom symbolischen Rahmen) gelöst und Kunst neu als soziales Handlungsfeld bestimmt. Und während die traditionelle das Problem der Identität in erster Linie zur Darstellung brachte (und damit letztlich unverbindlich blieb), ist die digitale Kunst immer auch praktische Arbeit an ihr bzw. deren Auflösung. Dabei benutzt sie eine Technologie, die – anders als Leinwand oder literarische Form – noch immer zentrale Produktivkraft des Kapitalismus ist. 

Wo digital mit Identität experimentiert wird, hat dies also nicht bloß ästhetischen Schauwert. Es greift direkt in den Quelltext des identischen Subjektes und ebenso jener Ökonomie ein, die es hervorbringt. Dies macht die Schlagkraft der digitalen Kultur zum gegenwärtigen Zeitpunkt aus: gesellschaftliche Realität herzustellen und auf diesem Wege immer auch zu verändern. Wo sie fiktive oder imaginäre Identitäten in Umlauf bringt, überschreitet sie den eng gesteckten Rahmen der Kunst – und wird zur praktischen Kritik des kapitalistischen Subjekts. 

Digitalität bietet viele Möglichkeiten, Identitäten zu modifizieren. Wir können mit ihr Wunschbilder unserer selbst auf die Oberflächen des World Wide Web projizieren. Sie markieren die eng gesteckten Grenzen der Identität als das, was sie sind: Begrenzungen. So werden neue Formen der Selbst-Erfahrung möglich: etwa die eines imaginären Selbst und eines Begehrens, das in unserer Realgestalt keinen Platz findet bzw. dort nur in Form von Tagträumen und Fantasien vorkommen kann. Im Netz können wir als phantasmagorische Wunschavatar_innen handeln, einander begegnen und miteinander kommunizieren. Dies ist eine historisch neue Form der Selbst-Entgrenzung. Und sie steht im Prinzip allen gleichermaßen zur Verfügung.

In diesem Sinne lässt sich digitale Kultur und jener Alltag im Netz, in dem die unterschiedlichen Aspekte unseres Lebens – Kreativität, Arbeit, Freizeit – nahe und manchmal eng umschlungen beieinander liegen, als Experiment mit Identitäten verstehen, das spielerische, aber auch durchaus ernsthafte Dimensionen besitzt. Dass wir uns dabei in Form von digitalen Repräsentationen unseres analogen Selbst (die wir immer wieder verändern) neu erfinden können, stellt einen Zugewinn an Freiheit dar.

Der Remix ist der genuine Kulturausdruck der Digitalität. Es gibt ihn nicht nur in Form von Musikstücken, die in der Bearbeitung von bereits vorhandenem Material etwas Neues erschaffen. Mit entsprechender Software können wir beispielsweise unser Aussehen wenigstens auf Bildern korrigieren, uns eine andere Stimme geben oder die alte durch Verfremdung unkenntlich machen. Derlei war zwar schon vor dem digitalen Zeitalter möglich, aber als Expert_innenwissen und -technologie blieb es das Privileg einiger weniger. Um Bilder zu retouchieren, brauchen wir heute kein Fotolabor mehr, wir benötigen nur einen Rechner und Bildbearbeitungsprogramme, mit denen die meisten User_innen nach kurzer Einarbeitungszeit souverän und kreativ umgehen können. 

Auch das Tonstudio, dessen wir noch vor wenigen Jahren bedurft hätten, um einen Track fachgerecht zu remixen, ist heute bereits standardmäßig in die meisten Geräte integriert. Und wo nicht, kann es mühelos heruntergeladen werden. Dadurch ist die Zahl derer, die damit beruflich oder zum privaten Vergnügen, zielgerichtet oder absichtslos umgehen, exponentiell angewachsen. 

Die an Bild- und Tonbearbeitungsprogramme angeschlossenen Möglichkeiten des Desktop Publishing (sei es im Netz oder in analogen Formaten) wiederum sorgen dafür, dass das, was wir am Rechner produzieren, in Sekundenschnelle weltweit zirkulieren kann. Die Digitalität hat Produktion und Distribution unmittelbar vernetzt, so dass jeder digital produzierte Inhalt – ohne Zugeständnisse an Verlage, Musiklabels, Galerien oder journalistische Konventionen machen zu müssen – sofort online erscheinen kann. Ob es sich dabei nun um die Artikulation konventioneller Ansichten handelt, die in Blog- oder Kommentarform gebracht werden, oder um völlig neuartige Experimente, spielt dabei natürlich keine Rolle.

 

Ich ist ein Datensatz

Im Netz verschwimmen die Grenzen zwischen uns und den Anderen. Wir können in ihrem Namen handeln, indem wir ihr WLAN oder ihren Account benutzen. Ihre digitale Identität können wir hacken, was Rückwirkungen auf die analoge haben kann. 

Wenn es uns gelingt, für eine Weile einen fremden Rechner zu übernehmen, übernehmen wir auch die Identität des/derjenigen, dem/der er gehört. Denn längst ist sie auf vielfältige Weise mit dem Digitalen verknüpft, und das weit stärker als wir es von anderen Werkzeugen oder Hilfsmitteln kennen. Im Prinzip sind wir im digitalen Zeitalter jene Cyborgs geworden, die Science-Fiction-Erzählungen entworfen haben, weil digitale Geräte sich als Extensionen unserer analogen Person verstehen lassen. Wir teilen unsere persönlichen Geheimnisse mit ihnen: als Browserchronik, als E-Mail oder in Form von Bild-, Text- und anderen Dateien, die wir in ihnen aufbewahren. 

Dies gilt nicht nur im übertragenen Sinne. Vor Gericht hat die IP-Adresse, die den Standort unseres Rechners verrät, längst Beweiskraft erlangt. Webseiten, die von ihr aus besucht wurden, haben wir besucht, weil wir verpflichtet sind, unser WLAN-Netzwerk durch entsprechende Verschlüsselungssoftware gegen den Missbrauch durch Dritte zu schützen. Unsere IP-Adresse macht uns identifizierbar. 

Digitale Kommunikationsmittel und -wege mögen die Überwindung jener Identität erleichtern, die uns vom Verwertungszusammenhang und der bürgerlichen Gesellschaft aufgenötigt wurde. Zugleich implementieren sie jedoch technische Strukturen, die unser User_innen-Verhalten auslesbar machen. Jede Onlinesuche und jeder Webseitenbesuch, jeder Up- und jeder Download bleibt in einem Netz, das nichts vergisst (weil jede einmal angesammelte Information – und sei sie noch so banal – irgendwann einmal noch verwertet werden könnte), für immer erhalten. Dabei verschwinden wir eben gerade nicht, sondern im Gegenteil: Das Netz macht uns in einem zuvor nie gekannten Ausmaß sichtbar. 

Das ist der Hauptwiderspruch, der die digitale Post-Identität durchzieht: Den virtuellen Vervielfältigungsmöglichkeiten von Identität steht jene physikalische Adresse gegenüber, von der sie ihren Ausgang nehmen. Unsichtbarkeit im Netz setzt Expert_innenwissen voraus; Aber die, die sich dort bewegen, verfügen meist gar nicht über entsprechende Kenntnisse – sei es aus Unwissen, Mangel an Interesse oder fehlendem Bewusstsein für die Gefahren des Surfens, das uns dazu verführt, unvorsichtig zu sein und uns viel breiter zu exponieren, als wir es eigentlich müssten. Dies ist die Grundlage für die juristische Verfolgung von Netzpiraterie, die Hand in Hand arbeitet mit einer Reihe zwielichtiger Geschäftsmodelle, etwa dem so genannter „Abmahnkanzleien“, die Urheberrechtsverstöße nicht zum Zwecke einer ohnehin fragwürdigen Rechtspflege, sondern als Einnahmequelle verfolgen (wie die Causa „Redtube“ deutlich gemacht hat, die vor einiger Zeit die deutsche Öffentlichkeit beschäftigte).

Die vermeintliche Anonymität im Netz ist in dieser Hinsicht nur eine Chimäre. Die Datenspuren, die wir dort produzieren, werden registriert, gesammelt und ausgewertet. Sie stellen die Basis für einen schwunghaften Handel mit „User_innen-Identität“ dar, denn welche Seiten wir aufsuchen, was wir einkaufen oder längere Zeit betrachten, enthält Informationen, die Begehrlichkeiten wecken. Viele Dienste, die uns gratis angeboten werden, haben es genau darauf abgesehen. Wir bezahlen sie mit den Daten, die wir ihnen im Gegenzug überlassen und die einiges zu erzählen haben. Sie geben Auskunft über uns: als Realpersonen, als statistische Größe, als personifizierte Kaufkraft und als potentielle Bedrohung für diese oder jene hegemoniale Struktur. Dabei verwandelt sich das Onlinesein in eine Ware, einen Datensatz und einen Kontrollfall, weil Digitalität neue Zugriffe gestattet und unüberschaubare Verarbeitungsmöglichkeiten für die so gewonnenen Daten und Bewegungsprofile bereithält. Statistische Algorithmen können mehr über uns aus- und voraussagen als wir selbst. Sie gewähren Einblick in unser Bewusstsein und jenes Unterbewusste, das sich in unserem Kaufverhalten oder Traffic ausdrückt. Aus individuellen Entscheidungen, die uns willkürlich und zusammenhanglos erscheinen mögen, errechnen sie ein Profil, das weiß, wer wir sind und was wir wollen. 

Auch unsere frei erfundenen digitalen Identitäten lassen Rückschlüsse auf unsere Offline-Identität zu. Avatar_innen können zwar verschleiern, wer und wie wir wirklich sind, aber sie geben doch Auskunft über unsere Bedürfnisse und Wünsche, und damit über jene Programme, mit denen unsere analoge Identität betrieben wird. 

Unsere digitalisierte Identität können wir also nicht mehr in der gleichen Weise abstreifen, wie jene analoge, von der uns die digitale Welt freistellt. Und dass wir uns mit digitalen Mitteln jederzeit kulturell neu erfinden können, heißt ja noch nicht, dass wir nicht mit denselben Mitteln juristisch für die Dinge belangt werden können, die wir in einer früheren Inkarnation unserer selbst getan haben.  

Über Dienste wie Skype können wir intime Gespräche und Beziehungen über große Entfernungen führen. Aber wir tun dies, indem wir das, was wir sagen und tun, in Datenpakete verpacken, die mitgehört oder abgefangen werden können; die Webcam, die in vielen Geräten bereits serienmäßig verbaut ist, lässt sich mit einem simplen Hack gegen uns richten, um unsere Wohnung einzusehen und all das zu dokumentieren, was sich in ihrem Gesichtsfeld abspielt. Ob dies geschieht und wenn ja, durch wen und warum, wissen wir in der Regel nicht. Unsere digitale Post-Identität vor Übergriffen zu schützen, ist daher eine der wichtigsten Aufgaben, denen sich politische Institutionen zu stellen hätten. Doch die befinden sich häufig noch immer in der Hand digitaler Know-Nothings, wie nicht nur das anachronistische Urheberrecht verdeutlicht, das auch in technisch fortschrittlichen Ländern noch immer beinahe unwidersprochen gilt.

Staatliche und suprastaatliche Überwachung (deren Ausmaß jüngst die NSA-Affäre angedeutet hat) und privatwirtschaftliches Ausspähen sind eine Bedrohung, weil die Informationen, die in Datenbanken über uns akkumuliert wurden, bleiben. Wir haben kaum Einfluss darauf, wann und ob sie überhaupt wieder gelöscht werden. Dadurch ist unsere Identität, obwohl sie sich doch eigentlich verflüssigen sollte, unter digitalem Vorzeichen wie in Stein gemeißelt. 

Und: Was wir unter den gegenwärtigen Bedingungen noch tun dürfen, ohne Anstoß zu erregen, könnte in der Zukunft unabsehbare Konsequenzen haben. Im Netz zu flirten, obwohl wir in einer festen Beziehung leben, mag Ausdruck unserer persönlichen Freiheit sein. Ein religiöses Tugendregime könnte dies aber ganz anders sehen und uns irgendwann für die Daten zu Rechenschaft ziehen, die in der Gegenwart über uns gesammelt wurden. Dies ist nicht völlig abwegig, wie der Vormarsch des Islamischen Staates in Teilen Syriens und des Irak deutlich macht. Bei der Eroberung von öffentlichen Gebäuden, staatlichen Behörden oder privatwirtschaftlichen Unternehmen fallen ihm auch die dort archivierten Datenbänke in die Hände. Dass islamistische oder andere Regimes so dokumentiertes Verhalten oder Neigungen mit drastischen Strafen belegen könnten, ist durchaus vorstellbar.

Selbst nach unserem Ableben lässt sich aus den Datenspuren, die wir zeitlebens produziert haben, noch auslesen, wer wir einmal „wirklich“ waren. Mit wenigen geschickten Mausklicks können dabei unsere wohlgehüteten Geheimnisse ans Licht gezerrt werden. 

 

Der Backlash der sozialen Netzwerke

Auch die derzeit boomenden sozialen Netzwerke machen unsere Identität zur Ware, wenngleich auf eine andere Weise. In ihnen produzieren wir Aufmerksamkeit für uns und akkumulieren soziales Kapital. Wir stellen uns dar, aber der Gegenstand dieser Darstellung ist häufig kein fiktiver Avatar mehr, sondern wir selbst sind es, die sich dort im doppelten Wortsinne produzieren. In ihrem Zentrum steht die Realperson, die für facebook von gesteigertem Interesse ist, weswegen User_innen dort neuerdings aufgefordert werden, sich mit Klarnamen zu registrieren (Accounts, die unter allzu offensichtlichen Nicks angelegt wurden, werden zurzeit gesperrt). 

Die Realperson knüpft im sozialen Netzwerk Kontakte und wird in ihnen zum Profil, das eine neue Form der Identität darstellt. Ähnlich wie das Subjekt ist es eine Schablone, die wir mit uns selbst ausfüllen müssen. Sie folgt den Vorgaben und Interessen der Betreiber_innen. Nicht von ungefähr hat es viele Ähnlichkeiten mit jenen Formularen, die uns die Verwaltungsbürokratie auszufüllen nötigt. 

Wo wir uns darauf einlassen, geschieht dies um den Preis einer immer weiter reichenden Integration unseres täglichen Lebens ins Profil, das genau das zur Zugangsvoraussetzung macht und uns auf diese Weise für seine Zwecke vereinnahmt. Dass hinter dem freien Austausch der Gleichberechtigten ökonomische Interessen stehen, übersehen wir in der Euphorie des Vernetzens aber in der Regel. Die Absichten, denen wir zuarbeiten – und die integraler Bestandteil unseres digitalen Profil-Selbst sind – können wir dabei ohnehin kaum je wirklich durchschauen.

Unternehmen wie facebook versuchen, immer mehr Bereiche unseres Lebens in Funktionen des von ihnen zur Zugangsvoraussetzung erhobenen Profils zu verwandeln.

Wir sollen möglichst viele persönliche Daten dort hinterlegen. Im Gegenzug dafür befreien sie uns von lästigen Tätigkeiten. Sie verwalten unsere Termine (und wir müssen keinen Kalender mehr mit uns herumtragen) und unsere Kontakte (was es uns erspart, ein analoges Adressbuch anzulegen). Sie erleichtern unser Leben, indem sie uns Entscheidungen abnehmen, und schränken auf diese Weise unsere Entscheidungsfreiheit immer weiter ein, weil die Verwandlung der Person in ihr Profil diese dazu zwingt, in vorgegebenen Bahnen und Mustern zu agieren und sich bestimmte Codes zu eigen zu machen. Statt sich mit anderen auseinanderzusetzen, „liken“ wir ihre Postings (schon weil eine „dislike“-Funktion nicht zur Verfügung steht). So werden wir zu digitalen Konsument_innen gemacht, deren Klicks mehr über ihre potentiellen Kaufentscheidungen sagen als darüber, was sie wirklich bewegt. Passgenaue Werbung ist die Folge, und um ihr zu entgehen, müssen wir ständig auf der Hut sein, was wir von uns preisgeben und wo die Anforderungen, die das Netzwerk an uns stellt, unsere Grenzen überschreiten. Aber im Alltag, zu dem der Umgang mit sozialen Netzwerken längst geworden ist, vergessen wir das dann doch auch immer wieder, weil uns permanente Wachsamkeit überfordert. Also resignieren wir und spielen mit bei dem, was uns abverlangt wird.  

Als eigenartige Komplementärform zur neuen digitalen Freiheit entsteht eine „soziale Netzwerkdiktatur“, der wir uns bereitwillig überlassen. Wir erlauben dem Netzwerk, unser Leben zu regeln und vor allem: uns unablässig Angebote zu unterbreiten auf der Basis dessen, was es über uns bereits weiß. 

Der hohe Anpassungsdruck, den Seiten wie facebook weitgehend unwidersprochen exekutieren, die Routinen, die sie uns auferlegen, und die Aufdringlichkeit, mit der sie in unsere Privatsphäre eindringen, gehören zur Dialektik der digitalen Identität; ebenso der soziale Erwartungsdruck, den wir zu spüren bekommen, wenn wir einen Dienst, an dem alle anderen bereits partizipieren, selbst noch nicht nutzen. Wer sich ihm verweigert, schließt sich aus. Wichtige Informationen oder persönliche Einladungen erreichen ihn oder sie nicht mehr, weil die längst nur noch in jenem sozialen Netzwerk zirkulieren, das ja sowieso schon alle benutzen. Auf diese Weise entsteht eine digitale Zweiklassengesellschaft, die die User_innen in anpassungswillige und leistungsbereite (im Sinne der vom sozialen Netzwerk geforderten Teilhabe) Technikgewinner_innen und renitente, ewiggestrige Technikverlierer_innen unterteilt. Und dass uns die Standardtechnologien der Gegenwart (wie sie aktuell etwa das Smartphone darstellt) keineswegs umsonst angeboten werden, verschärft den Klassencharakter des Digitalen nur noch. 

Trotz alledem ist das soziale Netzwerk das Kommunikationsmittel der Gegenwart. Es hat die E-Mail in ähnlicher Weise abgelöst wie diese die Briefkultur: beide existieren noch immer, aber sie haben ihre einstmalige Schlüsselrolle zugunsten eines Schattendaseins effizienteren Technologien überlassen. 

Das Geschäftsmodell der Briefkultur war Beförderung, für die wir zahlen mussten. Solange der Brief ausreichend frankiert war, war egal, welche Botschaft er enthielt. Unsere E-Mail-Accounts bekamen wir dann schon ebenso umsonst wie das Privatfernsehen, das nicht uns sein Programm verkaufte, sondern den Werbekund_innen unsere Aufmerksamkeit, die es erzeugte. Soziale Netzwerke funktionieren nach demselben Prinzip, aber sie können (abgesehen von den Werbebannern, denen sie uns trotzdem immerzu aussetzen) unsere Aufmerksamkeit viel zielgenauer vermarkten. Immerhin wissen sie mehr über uns, als es ein Fernsehsender je könnte. Sie arbeiten also nicht für sondern mit uns. Und wir arbeiten für sie, indem wir kommunizieren und uns vernetzen. 

Die Informationen, die wir ihnen überlassen, haben einen hohen Marktwert, so hoch, dass sich große Unternehmen damit gewinnbringend betreiben lassen, indem sie unsere Identität, unsere Wünsche, Bedürfnisse und Interessen und sogar unsere Beziehungen in Handelsgüter verwandeln. Das waren sie zwar schon immer – vor der Folie kapitalistischer Verwertung lässt sich der Warenform kaum entgehen, die sie über alles legt, was in ihr erscheint - aber der Zugriff auf diese Ware (und ihre Einspeisung in den Verwertungszusammenhang) wird durch soziale Netzwerke erheblich vereinfacht. 

Jene Identität, der wir im Netz entkommen wollten, kommt also unter diesen Prämissen auf neuartige Weise zurück: Auf twitter folgen wir realen Personen, und die Anzahl unserer Follower_innen zeigt an, wie gut wir uns vermarkten, welche Aufmerksamkeit unsere Inhalte generieren und inwieweit wir die Schlüsseleigenschaft des kontrollgesellschaftlichen Subjekts ins Spiel zu bringen vermögen: Interessanz. 

Soziale Netzwerke sind ein Marktplatz, auf dem wir im digitalen Aufmerksamkeitswettbewerb verzinsen, was und wer wir sind. Dafür müssen wir einiges tun. Die Arbeit an unserer Netzwerk-Identität lässt uns niemals zu Ruhe kommen. Ständig müssen wir jene Maschine füttern, die unsere Likes, Klicks und geschlossenen Freundschaften registriert, skaliert, auswertet und an den Meistbietenden verhökert. 

 

Positionierung: Digitale Kultur zwischen Deterritorialisierung und digitaler Identität 

Die Widersprüche zwischen Identitätsauflösung im Netz und den neuen Identitäten, die dort entstehen, sind ein Thema, das digitale Kunst und Kultur seit jeher beschäftigt hat. Wie soll sie damit umgehen und was soll sie davon halten, dass dort, wo sich traditionelle Identitätsmuster auflösen, neue Identitäten und Möglichkeiten der Identitätsfeststellung an ihre Stelle treten? Haben sie diese also bereits überwunden oder doch nur „upgedated“, sprich: auf den neusten technischen Stand gehoben? 

Und wer oder was trägt die Schuld daran? Die Technologie? Die Ökonomie? Möglicherweise sogar die, die es zulassen, ohne entschieden zu widersprechen oder auf ein anderes besseres Netz zu bestehen: also wir alle?  

Waren die beschriebenen Reterritorialisierungen vielleicht bereits in der Struktur des Digitalen angelegt und der (Identitäts-)Freiraum, der dort für eine Weile entstehen konnte, nur die berühmte Ruhe vor dem Sturm oder jener kurze Moment der Anomie, der mit Paradigmenwechsel stets einhergeht? 

Ist das Netz also noch eine Utopie, für die wir kämpfen sollten (und ist es das je gewesen?), weil wir verhindern wollen, dass sie im Business-as-Usual verloren geht? Und: Was sagt all das eigentlich über jene Hoffnung aus, die wir in die digitale Technologie investiert haben – und über uns, die an sie zu glauben noch immer willens sind oder die wenigstens einmal an sie geglaubt haben?

Wie sollen wir mit jenen sozialen Netzwerken umgehen, auf die wir in unserer täglichen Praxis ja ohnehin angewiesen sind? Wie können wir jener Identifizierung entgehen, die sie von uns verlangen, um uns verwerten zu können? Welchen emanzipatorischen Spielraum stellen sie bereit und welche identitäre Fixierung erlegen sie uns im Gegenzug doch wieder auf?
Und: Wie sollen wir unsere Identität mit digitalen Mitteln verändern? Welche Identitätsfallen stellen sich auf diesem Wege, und wie lassen sie sich wiederum umgehen oder sogar austricksen? Was können wir aus den digitalen Möglichkeiten und Werkzeugen, die wir benutzen, über uns selbst erfahren? Welche Identität benötigen wir: als User_innen, als digitale, als Sub- und als Gegenkultur? 

Wie können wir unsere Spuren im Netz wirkungsvoll verwischen und was können wir gegen den noch immer viel zu sorglosen Umgang mit ihm tun, den wir im naiven User_innen-Verhalten der Anderen – und wenn wir ehrlich sind: immer auch an uns selbst – bemerken?

Welche taktischen und welche praktischen Bewegungsformen im Netz brauchen wir, und in welche Bahnen wollen wir sie lenken?

Was kann die alternative digitale Kultur leisten, um das Netz als nicht-identitären Raum zurückzuerobern – oder um ein solches Netz überhaupt erst entstehen zu lassen? Benötigen wir ein anderes Netz, um andere Identitäten in ihm zu entwerfen? Und: Benötigen wir überhaupt ein anderes Netz? 

Wie können wir uns als Kulturschaffende dagegen verwahren, Aufmerksamkeit zu erzeugen – und darin wieder zu einem identifizierbaren Kunstsubjekt zu werden, wie es nicht nur der Kunstmarkt von uns fordert? Gibt es eine nicht-identitäre und vielleicht sogar: eine nicht durchherrschte Subjektivität? Müssen wir kollektive Identitäten erschaffen, um darin der individuellen zu entkommen – oder funktionieren auch diese nach den gleichen Mustern der Identifizierung?

Andererseits: Wie und in wessen Namen können wir handeln und Rechte einfordern, wenn wir nicht mehr mit uns selbst identisch sind: als Subjekt wie als Kollektiv? Gibt es eine andere Identität, ein anderes Subjekt und eine andere Form der Kollektivierung als jene, die uns die herrschenden Verhältnisse überstülpen? Woran können wir dabei anknüpfen, welche anti-identitären künstlerischen oder politischen Praxen existieren im Netz und jenseits davon? Und inwieweit können und müssen wir uns mit ihnen „identifizieren“, solidarisieren und durch sie unsere Handlungsspielräume erweitern? 

Was gewinnen wir überhaupt, wenn wir uns verlieren und aufhören, der oder die zu sein, die wir angeblich sind? Inwiefern kann Kunst und im besonderen Maße: digitale Kunst jener Ort sein, an dem sich Identität sinnvoll aufgeben lässt? Was tritt dann eigentlich an ihre Stelle? Ist das Gerede von der Identitätsüberwindung im digitalen Kulturraum vielleicht nur eine Behauptung? Und wenn ja, woher stammt sie und wem nutzt sie? Den Gerätehersteller_innen? Dem Staat, der digitale Bürger_innen leichter kontrollieren kann als analoge? Oder jenen Künstler_innen und digitalen Kulturprofis, die sich mit diesbezüglichen Claims vermarkten? 

Welches Potential zur Dekonstruktion von uns selbst und von ideologischen Systemen bietet Kunst, und welches die digitale Kunst?

Diesen und vielen anderen Fragen rund um Identität und Post-Identität im digitalen Raum stellt sich paraflows .XI.

Frank Apunkt Schneider/Günther Friesinger